Die Out-of-the-box Lüge in PLM-Systemauswahlen

Nach zwei wirklich aufschlussreichen Artikeln des Gastautors Markus Ripping bin ich jetzt mal wieder dran mit einem Blogpost. Und der provokant gewählte Titel deutet auch schon die Richtung an. Es wird wieder etwas praktischer und geht und die Auswahl des richtigen PLM-Systems – wenn es das eine “richtige” überhaupt gibt.

PLM Änderungen sind notwendig

In den letzten 20 Jahren konnte ich an vielen Projekten mitarbeiten, die sich mit der Auswahl eines geeigneten PLM-Systems beschäftigt haben. Dabei habe ich beide Seiten kennengelernt, sowohl die des Kunden als auch die des potenziellen Software-Lieferanten. In den allermeisten Fällen wird im Rahmen einer mehr oder minder ausführlichen Analysephase ein Kriterienkatalog erarbeitet, in dem basierend auf den aktuellen Geschäftsprozessen Anforderungen an das zukünftige Wunschsystem zusammengefasst werden.

Dieser Fragebogen kann auch gerne mal eine mehrere Quadratmeter große Exceltabelle sein mit den Antwortmöglichkeiten “Out-of-the-box”, “Anpassung mit geringem Aufwand”, “Anpassung mit höherem Aufwand” und “Individuelle Entwicklung”.

In einigen, wenigen Fällen wird auch nach nicht funktionalen Anforderungen (z.B. notwendige Infrastruktur, Integrationsfähigkeiten, Anbindung verteilter Standorte, …) gefragt, um diese ebenfalls zu bewerten. Das passiert aber eher seltener, meistens bleibt es beim Abfragen Funktionen und Features.

Die nach besten Wissen und Gewissen von den potenziellen Softwarelieferanten gelieferten Antworten werden dann verglichen und gewichtet und übrig bleiben dann die Systeme, die in die engere Auswahl kommen. An dieser Stelle möchte ich dem geneigten Leser, der sich hier wiedererkennt, zwei Fragen stellen:

Denken sie bitte 3-5 Jahre zurück. Wie hätte dort ihr Fragenkatalog ausgesehen? Ist er komplett identisch mit dem, den sie heute entwickelt haben und Ihre Geschäftsprozesse und Daten haben sich in den letzten 3-5 Jahre nicht weiterentwickelt?

Denken Sie einmal 3-5 Jahre voraus. Wird der Kriterienkatalog in der Zukunft komplett identisch sein mit dem, den sie heute haben? Lesen Sie dazu auch den Artikel von Markus zum Thema Dynaxity.

Wenn sie in beiden Fällen absolut sicher sind, das sich Ihre Anforderungen an ihr PLM-System über 6-10 Jahre nicht ändern werden, dann bringt dieser Artikel ihnen keinen Erkenntnisgewinn. Dann werden Sie mit der oben geschilderten Auswahl das perfekte System für sie finden.

Es ist natürlich überhaupt nichts falsch daran, nach einer möglichst großen Schnittmenge zwischen eigenen Anforderungen und Out-of-the-box-Features zu suchen, ganz im Gegenteil. Natürlich gibt es eine ganze Reihe Anwendungsfälle, die eher stabil sind und bleiben und die wollen Sie natürlich möglichst “ready for use” vorfinden.

Aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden sich die Anforderungen an Ihr PLM-System ändern, einige werden hinzukommen, andere werden gar nicht mehr so wichtig sein und vielleicht ganz wegfallen. Daran besteht kein Zweifel. Und genau dieses immens wichtige Kriterium spielt in fast allen PLM-System Benchmarks überhaupt keine Rolle und wird immer “vergessen”: Wie gut, wie einfach, wie schnell und mit welchen Wissen kann ich mein System an zukünftige Anforderungen anpassen? Es ist schließlich ihr PLM-System und nicht das PLM-System, das ein PLM-Systemhersteller für geeignet für sie hält. Und im Gegensatz zu anderer Unternehmensoftware reden wir hier von Daten und Prozessen rund um ihr Produkt. Exakt dem “Ding”, mit dem sie ihr Geld verdienen, das etwas einzigartiges beinhaltet, dass sie von Ihrem Wettbewerb unterscheidet. Und wir sprechen über Daten und Prozesse, die das Herz, Wirbelsäule und Nervenbahnen Ihres Unternehmens bedeuten und diese gehorchen eher nicht vordefinierten Features, die auch Ihre Marktbegleiter einsetzen.

PLM Systemvergleiche vollständig durchführenDas sie ihr PLM-System an Ihre individuellen Bedürfnisse anpassen werden, ist unausweichlich. Und genau für diese Fall schauen sie genau hin, was ihre potenziellen Anbieter können. Vertrauen sie nicht auf schicke Powerpoints oder vorgefertigte Presales-Szenarien. Probieren Sie es aus, wie es sich anfühlt, das PLM-System zu verändern, anzupassen, neue Anforderungen an Daten und Prozesse abzubilden. Was müssen Sie dafür in Ausbildung investieren? Werden spezielle Entwicklungsumgebungen und besondere Kenntnisse dafür benötigt? Kann ich Anpassungen überhaupt selbst vornehmen oder muss ich immer einen Spezialisten dafür beauftragen? All diese Fragen werden sehr schnell sehr wichtig für einen PLM-Systemanwender und müssen daher in meinem Benchmark eine signifikante, wenn nicht sogar die signifikanteste Rolle spielen.

Warum machen wir nicht PLM End2End?

Markus Ripping, der Autor des letzten Gastbeitrags, greift in seinem neuen Artikel weitere Aspekte der Digitalisierung und der vor uns stehenden Herausforderungen im PLM Business auf und teilt diese Gedanken mit der geneigten Leserschaft. Vielen Dank dafür. Ich selbst habe einige neue Erkenntnisse gewinnen können. Aber genug der Vorrede, hier ist der Artikel:

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Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

PLM ist ein in der Industrie seit Jahrzehnten etablierter Begriff. Dennoch sieht man erst in den letzten Jahren eine tatsächliche Bewegung hin zum Managen eines kompletten Lifecycles. Vorher war der unbestrittene Fokus auf Engineering-Themen und viel PLM war eigentlich nur PDM. Was wird es uns bringen, wenn wir unser Produkt wirklich von der Wiege bis zur Bahre oder besser noch – um beim Bild des Lebens zu bleiben – von der Zeugung bis zur abgeschlossenen Kompostierung begleiten? Wie wird sich PLM verändern, wenn wir Marketing-Aspekte an einem der Enden und Service & MRO-Aspekte am anderen Ende sowie alles dazwischen wirklich integrativ erfassen würden wollen? Wie schließen wir den Kreis und lassen frühe Phasen der Produktentstehung an Erkenntnissen späterer Phasen nutznießend teilhaben?

Zum Ende meines letzten – etwas ketzerisch geschriebenen – Blogbeitrages hatte ich die Frage in den Raum gestellt, warum wir PLM eigentlich nicht mal wirklich End2End machen. Ganz einfach: Weil es nicht ganz einfach ist.

Die Digitalisierung schreitet voran, kaum eine Industrie kann sich ihr verschließen. Neue Produktkategorien, neue Geschäftsmodelle, neue Vertriebswege und –strategien. Dynaxity ist King. Interessant ist, dass wir im PLM heute weiterhin im Wesentlichen Strategien und Werkzeuge sehen, die Struktur und Ordnung schaffen wollen. Das sind im Bild des Dynaxity-Modells alles Maßnahmen für die zweite, also dynamische Zone. Befragt man eine Suchmaschine nach dem Begriff Management, ist der erste Vorschlag die Definition „The process of dealing with or controlling things or people“. Struktur und Ordnung ist Kontrolle. Das „Management“ in PLM verkommt damit zu einem reinen Verwalten.

Realität ist aber, dass wir uns auf die Zukunft einstellend damit abfinden müssen, dass Digitalisierung turbulent (Dynaxity Zone 3) ist. Bei Turbulenzen muss man anpassungsfähig sein. Liebgewordenes über Bord werfen. „Dealing with“ scheint also der Knackpunkt zu sein. Leo schlägt als erste Übersetzung für „to manage“ vor: „etwas bewältigen“. Bewältigen werden wir aber in größeren Firmen sicher nichts allein. Teamarbeit ist gefragt.

PLM wird damit für mich zu einem Kommunikations- und Collaborations-Enabler. Nicht mehr und nicht weniger.

Wie finde ich in einem komplexen und sich stetig verändernden System immer wieder neu die Personen und Informationen, die ich zur Bewältigung meiner Aufgabe benötige? Und welche Informationen benötige ich überhaupt? Für mich fallen seit geraumer Zeit die Grenzen, die PLM früher auf Engineering-Aspekte eingeschränkt haben. Heute muss ich noch während der Entwicklung wissen, ob der Markt mein Produkt überhaupt noch nachfragt. Ich muss Wartbarkeit definieren, noch bevor ich weiß, ob ich das Produkt verkaufe oder als Service anbiete. Fundamentale Fragen eines Wertschöpfungsprozesses verändern sich, während der Prozess durchlaufen wird. Nichts kann mehr schön in Ruhe seriell abgearbeitet werden.

Deswegen muss ich in Zukunft alle Silos durchbrechen. Ich muss im Marketing verstehen, was Corporate Development macht. Denn nur so, kann ich einen Development Funnel sicherstellen, der mir die richtigen Produkte zur richtigen Zeit marktfertig bereitstellt. Ich muss aber auch mein eigenes Product Portfolio Management mit der Zulieferkette in der Fertigung und Produktion verbinden. Immerhin drehen sich die Uhren auch bei unseren Lieferanten immer schneller. Und Druck können wir da auch nicht mehr wie früher ausüben. Mit IIoT bekommen wir Zugriff auf Erkenntnisse aus dem Betrieb unserer Produkte, die von unschätzbarem Wert für R&D sind und noch vor 5 Jahren undenkbar waren. Gleichzeitig wird der Product Ideation Prozess immer schnelllebiger und braucht Erkenntnisse aus der Marktforschung. usw. usw. usw.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Plötzlich müsste eigentlich jeder mit jedem sprechen. Aber man kennt sich gar nicht persönlich. Und man wird sich auch nicht kennen, denn Dynamik und Wachstum schaffen auch selbst auf der HR-Front neue Hürden. Früher kannte man sich, arbeitete Jahre lang mit- und nebeneinander. Im heutigen Markt ist das Wachstum enorm, die Fluktuation größer, Platz nach oben für Beförderungen gegeben und Job-Hopping innerhalb von Konzernen ebenfalls in Mode. „Corporate Social Networks“ werden wichtig und basieren nicht mehr auf alten Seilschaften. Eins eint alle Beteiligten: Produktdaten.

PLM wird damit für mich zu einem Kommunikations- und Collaborations-Enabler. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber was sind eigentlich Produktdaten? Die Frage bietet Raum, ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Und eine ganze Reihe schlauer Leute hat das bereits getan. Doch auch diese Grenzen verschwimmen mit der Zeit. Ich arbeite bei einem Hersteller diskreter Produkte, die bei unseren Kunden in der Prozessindustrie eingesetzt werden. Ich denke heute darüber nach, wie ich die erzeugten Prozessdaten meiner Kunden „tesseliere“ und in unseren R&D und Portfolio Management Prozess zurückfädele. Vor 5 Jahren hipper Zukunftskram, heute aus meiner Sicht nötige Maßnahme, mich auf die nahe Zukunft vorzubereiten. Das schafft aber ganz neue Herausforderungen auf der Zusammenarbeitsebene. Infrastruktur ist da noch das trivialste Problem. Wir brauchen juristische Vereinbarungen, um überhaupt Zugriff auf Relevantes zu bekommen. Das geht meist nicht gut im Kunde/Lieferant-Verhältnis, besser schon wenn man als Partner auf Augenhöhe kooperiert. Aber auch bei Partnern macht man sich Gedanken über den Wert von Daten. Wir wollen lernen. Unsere Kunden wollen aber nicht, dass wir gleich ihr ganzes Geschäft mitlernen und dem nächsten Konkurrenten anbieten. Intellectual Property wird da plötzlich bis auf Attribut- und Transaktions-Ebene ein relevantes Thema, mit dem sich auch Legal & Compliance auseinandersetzt. Noch ein Player im Boot.

PLM wird damit für mich zu einem Kommunikations- und Collaborations-Enabler. Nicht mehr und nicht weniger.

Ich mag daher auch nicht mehr die traditionelle Abgrenzung ERP <-> PLM mit überschaubarem Overlap. PLM sollte mehr Strategie, ganzheitliches Konzept oder von mir aus auch Vision sein und nicht auf das reine Toolset reduziert werden. Am Toolset und dessen Implementierung halten sich eh zu viele Leute auf. Die eierlegende Wollmilchsau gibt es nicht und wird es auch entgegen der Beteuerung der einschlägigen Anbieter nicht geben. Außerdem wird es weniger denn je eine statische IT-Landschaft sein. IT-Individualismus auf die eigenen Bedürfnisse ist gefragt. Die lässt sich mit dem Wissen über Informationsflüsse aber besser kleinteilig bewerkstelligen, als mit monolithischen Single-Point-Of-Truth Strukturen. Ich bin schon seit jeher Freund von Single-Source-Of-Truth in Abgrenzung zu Single-Point. Pro Information eine Quelle ist entscheidend, um Redundanzen aus dem System zu nehmen, manuelle Prozesse zu reduzieren und Fehleranfälligkeit in den Griff zu bekommen. In wie vielen Systemen die Information eines einzelnen Ursprungs konsolidiert und konsumiert werden hat für mich keine besondere Relevanz. Für die Endabnehmer aber schon. Die mögen es, in Ihnen vertrauten Systemen zu arbeiten. Alles ablösen und die PLM/ERP Rundum-Sorglos-Lösung bereitstellen wird massive Change-Management-Schockwellen auslösen. Minimalinvasiv ist das Stichwort. Kleinteilige, individuelle Lösungen, im Zweifel im Eigenbau und gerne proprietär – denn wo steckt Intellectual Property nicht in Zukunft, wenn nicht im Wissen um die sinnvolle Bearbeitung und Verwendung der eigenen Daten. Und ganz praktisch: Der Ansatz ist auch noch super kompatibel mit einem der vielen anderen Buzzwords der Digitalisierung: Agile! Auch bei Agile geht’s im Übrigen um Kommunikation und Collaboration.

PLM wird damit für mich zu einem Kommunikations- und Collaborations-Enabler. Nicht mehr und nicht weniger. Das kann man gar nicht oft genug wiederholen!

Grad noch Digital Twin, jetzt Digital Thread – Warum wir am Ende doch nur PLM machen

 

Gerade eben saß er noch auf der Blogcouch und hat ein Interview gegeben, jetzt teilt er sein Wissen und seine Erfahrungen auch in einem Gastbeitrag. Ich freue mich sehr darüber, Markus Ripping, global verantwortlich für das PLM bei Sartorius, als Gastautor für den PLM-Blog gewonnen zu haben. Aber jetzt genug der einleitenden Worte und viel Freude beim Lesen seines Artikels.

Insbesondere, weil PLM schwer zu erklären ist und sich noch schwerer im Innenverhältnis von Industrie-Betrieben wirtschaftlich verkaufen lässt, wird in der Branche in den vergaIst der Digital Thread das neue PLM?ngenen Jahren in der Hoffnung auf Aufmerksamkeit bei Entscheidern eine Buzzword-Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben. An den wesentlichen Schwerpunkten der PLM-Arbeit und an der Wichtigkeit, insbesondere in Hinblick auf die für viele Industrien bitter nötige Digitalisierung, hat sich aber nichts geändert. Buzzwords schaffen Begehren auf der C-Ebene, welche aktuell bei der Trägheit und Change-Aversion bestehender Organisationen zum Scheitern verurteilt sind. PLM ist schon schwer genug. Wir sollten es nicht noch versuchen, sexy zu machen.

In den Jahren, in denen ich mich im PLM-Umfeld bewegt habe war der Begriff „Product Lifecycle Management“ nie stabil. Über die Jahre sind verschiedene Themenkomplexe hinein- und wieder herausinterpretiert worden. Aber der Terminus PLM war immer da. In den letzten Jahren hat sich das geändert. Zu meinem großen Bedauern.

Früher war es der nächste logische Schritt auf dem steinigen Weg eines professionalisierten Produktentstehungsprozesses. Man nannte es PLM, auch wenn man eigentlich noch PDM machte. Das war in einer Zeit, als es auch schon schwierig war, PLM zu verkaufen. Denn es war schon immer schwierig, PLM zu verkaufen. Ich komme aus der Beratung, aber ich meine nicht PLM-Beratung. Ich meine den Buy-In des Industrie-C-Level.

Warum wir uns das alles überhaupt antun? „PLM implementieren ist leichter, als es zu verkaufen“. Wir kennen alle die Sprüche. Man hat sich abgemüht, Gelder zu bekommen und hat komplexeste Systemlandschaften gebaut, alles basierend auf anfangs ziemlich dünnen Business Cases und mit optimistischen ROIs. Warum? Weil PLM Grundlagen schafft. Weil PLM vieles besser macht, aber fast nichts davon direkt. Im PLM-Umfeld gibt es eine Häufung von Berufs-Optimisten. Leute, die die Probleme von heute schon vorgestern gesehen haben. Und die versucht haben, Weichen zu stellen für eine Zukunft, die sie selbst noch nicht verstanden. Man kannte zwar nicht den Weg, aber zumindest hatte man eine Ahnung vom Ziel.

Wohin geht PLM?Heute kennen wir die Ziele. Die „hippen“ High-Tech-Unternehmen machen uns vor, wie man agil wird und durch Agilität weiterkommt. Wie man nicht mehr nur Produkte besser macht, sondern gleich komplett neue Business-Modelle schafft – am besten gleich ganz ohne lästige physische Produkte. Everything as a Service. Das schafft Begehrlichkeiten. Insbesondere bei den hochrangigen Entscheidern. Begehrlichkeiten, die PLM zwar nicht alleine befriedigen kann, für dessen Befriedigung in vielen Industrien PLM aber einer der Schlüssel-Enabler sein kann.

Warum geht also PLM nicht ab wie ‘ne Rakete? Weil Entscheider PLM seit x Jahren kennen! „Wie kann etwas, das wir vor 15 Jahren schon versucht haben uns jetzt plötzlich in die goldene Zukunft bringen? Geht doch nicht!“ Eine genauso verständliche wie falsche Argumentation. Unsere Reaktion als PLM-Community? Anstatt PLM heute richtig zu machen mit den Mitteln, die uns 2018 frei zur Verfügung stellt und nicht mehr hilflos zu frickeln, wie es vor 15 Jahren zwangsweise nötig war, fallen wir auf die Argumentation herein und geben dem Kind einen neuen Namen. Wir nennen das ganze nicht mehr Produkt-Lifecycle-Management.  Neue Namen gibt es genug. Neue hehre Ziele ebenso.

PLM war zu abstrakt. Unter einem Digital Twin kann sich jeder etwas vorstellen – glaubt jeder, sich etwas vorstellen zu können. Aber für viele aktuelle Firmen ist ein (vollständiger) digitaler Zwilling heute genauso unerreichbar wie (noch) unnütz.

Genauso unstrukturiertes Datensammeln und -kippen in einen Data Lake. „Heute anfangen, keine Daten mehr verloren gehen lassen!“. Egal! Was ich heute im Zeitraum eines Jahres sammeln kann, kann ich in 5 Jahren in wenigen Tagen, vielleicht sogar Stunden sammeln.

Oder Künstliche Intelligenz, die heute noch weit, weit davon entfernt ist, intelligent zu sein. Man googele den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität.

Model Based System Engineering? AR/VR? Und nun Digital Thread? Aus Fäden macht meine Schwiegermutter warme Socken. Die sind toll, helfen aber der Industrie nicht weiter. Meiner zumindest nicht. Und sexy sind sie auch nicht.

Früher war jedes Ziel ein hehres Ziel. Heute bringen die Schritte auf dem Weg zu den Zielen die Organisation weiter. Nicht unbedingt das Ziel selbst. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass Buzzwords eine magische Eigenschaft mit sich bringen. Sie werden nie hinterfragt. „Brauchen wir das überhaupt? Was bringt es uns? Welche heute unmögliche Wertschöpfung erreichen wir?“. Selbst „Was kost‘ der Spaß?“. Solche Fragen stellen sich bei den Buzzwords nicht. Aber für mich sind die Buzzwords von heute die Zielgerade eines Marathon. Wo stehen die Organisationen heute? Manche sind schon losgelaufen. Aber andere sitzen noch auf der Couch, shoppen Laufshirts bei Amazon und träumen vom Training – in dem Irrglauben, es würde schon nicht anstrengend sein.

PLM ist antrengend

Aber es wird anstrengend! In der Welt des Product Lifecycle Managements ist anstrengend gleich komplex. Oft genug sogar kompliziert -> komplex -> chaotisch! Da geht auch gern mal was schief. Bei Erfolg sind die Gewinner oft die anderen. Die Nutznießer der Systeme. Bei denen wurde ein abstrakter Case nach einer Zeit des Einschleifens plötzlich selbstverständliches Handwerkszeug. Ohne leben: undenkbar. Verlierer durfte man im PLM-Umfeld immer gern alleine sein. Deswegen jetzt ausweichen und zu weit in die Zukunft blicken und vom Thema ablenken zählt nicht. Dazu ist der Weg auch heute noch immer zu steinig. Und auch heute können wir genug Themen aufgreifen, die uns und unsere Organisationen jetzt weiterbringt. Nicht erst morgen. Weiterhin abstrakt. Aber doch auch konkreter, als das vor Jahren möglich war. Mit modernen Werkzeugen. Und vielleicht endlich mal wirklich End2End und nicht nur mit einem starken Fokus auf die Produktentwicklung. Dafür aber als das, was es ist: PLM.

Es gibt das Sprichwort „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“. Wir sehen den Wald! Wir sollten nur vor lauter Vorfreude auf den Wald das Bäume pflanzen nicht vergessen. Die fehlen oft genug noch oder sind zwar da, aber schon morsch!

Der PLM-Talk – heute mit Markus Ripping

 

Nachdem in der letzten Zeit die technischen Artikel wieder überwiegt haben, ist es jetzt mal wieder Zeit für eine weitere Episode des PLM Talks. Ich habe weder Kosten noch Mühe gescheut, um einen weiteren hochkarätigen Gesprächspartner zu gewinnen. Das heutige Interview führe ich mit Markus Ripping, beim Biotech- und Laborzulieferer Sartorius global verantwortlich für das Thema PLM. Ich wünsche dem geneigten Besucher dieses Blogs viel Spaß beim Lesen dieses Interviews.

Herzlich Willkommen auf meiner virtuellen Blogcouch, Herr Ripping. Machen Sie es sich bitte recht bequem. Viele Leser dieses Artikels werden sie aus ihren zahlreichen PLM-Projekten in mittlerweile über 15 Jahren kennen. Können Sie trotzdem bitte ein paar Worte zu ihrer Person und ihren bisherigen beruflichen Stationen verlieren?

PLM Experte Markus RippingMarkus Ripping: Gerne. Zu meiner Person: Baujahr 77, verheiratet, ein Sohn. Gelernter Dipl-Ing. Verkehrswesen, Luft- und Raumfahrt. Ich hatte am Anfang meiner Karriere die Chance, in einen militärisch beeinflussten Industriebetrieb zu schnuppern, was bei mir praktisch unmittelbar den Reflex ausgelöst hat, in ein Umfeld höherer Dynamik zugehen und erstmal nicht in der Industrie zu arbeiten. Ich hab mich dann rund 15 Jahre in der technologie-lastigen Unternehmensberatung rumgetrieben. In der Zeit habe ich das Spektrum von kleiner, lokaler Nischen-Beratung bis zum internationalen „Monster“ für mich ausprobiert.

PLM und Systems Engineering wird bei Raumfahrern mit der Muttermilch aufgesogen. Eine Konzentration auf das Thema war daher naheliegend. Anfangs waren das für mich Visualisierungs– und Kollaborationsthemen eher konzeptioneller Natur. Immer mit einem Fokus, das Business zu verstehen und Mediator Richtung IT zu sein. Aus den Extended Enterprise Fragestellungen ist dann irgendwann der Themenkomplex Business Process Outsourcing im PLM-Umfeld entstanden. Da ging es deutlich mehr um operatives Tagesgeschäft und wie man Konstruktions- und Qualitätssicherungsmaßnahmen im Design-Prozess sinnvoll nach offshore verlagert. Die letzten Jahre in der Beratung waren geprägt von eher strategischer Beratung und einem Fokus auf die Wechselwirkungen von PLM in Merger & Acquisition bzw. Divestment Situationen.

Als mein Sohn zur Schule kam hab ich mein Leben aus dem Koffer an den Nagel gehängt und bin in die Industrie und gleichzeitig meine alte Heimat gewechselt. Hier habe ich die Chance – dank dynamischen Wachstums in der Biotech-Branche – eine Reise in die PLM-Zukunft zu begleiten und dem Unternehmen mit meinem kleinen Beitrag zu helfen, den Sprung vom Familienunternehmen in die Global-Enterprise-Welt zu schaffen.

 

In ihren beruflichen Stationen in verschiedenen Unternehmensberatungen konnten Sie einen vielfältigen Einblick in das Thema PLM gewinnen. Was unterscheidet aus ihrer persönlichen Sicht heraus ein PLM Projekt im Jahr 2018 von einem PLM Projekt im Jahr 2008. Oder anders gefragt, was ist der Erkenntnisgewinn der letzten 10 Jahre PLM?

Da gibt es vielfältige Antwortmöglichkeiten. „Standards“ wäre eine. Vor 10 Jahren waren in PLM-Umgebungen vieles noch selbstgebaut. Aus der Not heraus geboren. Heute haben wir akzeptiert, dass wir keine monolithischen Systeme bauen müssen, unter anderem auch dank offener Standards und einfach erreich- und implementierbarer Interfaces. Themen wie cpo sind wichtig und intensiv voranzutreiben.

Eine andere Perspektive ist die Anwendung von PLM im Unternehmen. Vor 10 Jahren waren PLM-Projekte ehrlicherweise oft noch PDM-Projekte. PLM war die Spielwiese der Produktentwicklung. Das hat sich geändert. Die ersten waren die Manufacturing-Leute, die die Mehrwerte einer harmonisierten Landschaft neben ERP verstanden haben. Heute unterhalten wir uns mit Marketing und Service und nähern uns einer echten End2End-Abdeckung. Damit werden wir endlich dem „Lifecycle“ in PLM gerechter.

 

Wenn Sie heute auf ihre erste berufliche Station zurückblicken und heute in ihrem Team Nachwuchskräfte sehen, was können sie jungen Ingenieure und Ingenieurinnen raten, die sich für dieses Thema interessieren. Wir sind beide aus der Generation, die noch die klassischen Diplomstudiengänge absolviert haben. Sind die jungen Kollegen und Kolleginnen heute besser oder „nur“ anders vorbereitet auf die Herausforderungen des PLMigen Berufslebens?

Ich hab mich damals eigentlich schon nicht schlecht vorbereitet gefühlt. Aber in der Tat hat sich seitdem vieles verändert. Mir hat man noch Wasserfall beigebracht als wäre es die einzige Möglichkeit, Software-Projekte abzuwickeln. Mein Ratschlag an junge Leute: Über den Tellerrand schauen. Der Ingenieur darf heute kein reiner Technik-Experte sein.

In meinen Teams gibt es immer auch Spezialisten u.a. für Change Management. Man muss die Leute mit ihren Ängsten und Sorgen abholen. Das haben wir früher vernachlässigt. Eine weitere Erkenntnis: Gute Dinge tun reicht nicht. Man muss sie auch verkaufen können. Daher muss heute mehr Wert auch auf das interne Marketing von PLM-Aktivitäten gelegt werden. Das bedarf eines ganz anderen Skillsets als an den technischen Lösungen zu arbeiten. Diese Interdisziplinarität ist einer der Schlüssel zum Erfolg. Daher helfen heute eher Generalisten als Spezialisten.

 

Sie blicken auf eine langjährige Erfahrung als PLM-Experte und Berater zurück. Ich möchte zuerst nach den positiven Dingen fragen: Was hat sich Ihrer Meinung nach verbessert in den PLM Projekten über diese Zeit?

Heute verfügbare Technologie und die Fähigkeiten, Komplexität zu managen machen aktuelle PLM-Projekte mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich, als das am Anfang meiner Karriere der Fall war. Da ist deutlich häufiger auch Geld in den Sand gesetzt worden. Außerdem hat sich die Erkenntnis deutlich breiter durchgesetzt, dass PLM nicht nur ein System ist, sondern eine Strategie des Unternehmens sein muss und viel mehr von Prozessen als von IT-Tools lebt.

 

Und wo stehen wir immer noch vor den gleichen Problemen wie vor 15 Jahren?

PLM verkauft sich auf der Management-Ebene weiterhin nicht gut. Das Thema ist abstrakt, für Manager ohne technischen Hintergrund schwer greifbar und es fällt uns auch heute noch schwer, gute Business Cases aufzustellen. Die technologische Komponente ist eher ein Enabler für Andere als eine sich selbst tragende Geschichte. Wenn Sie sich ein optimales PLM Projekten backen könnten, welche Zutaten sind unabdingbar für den Erfolg des Projektes? Was sind die Randbedingungen und Voraussetzungen, ohne die kein PLM Projekt zu den gewünschten Ergebnissen führt?

 

  1. Management-Buy-In. Wenn es kein Commitment der Entscheider gibt, es wirklich durchzuziehen, braucht man gar nicht erst anfangen.
  2. Begehrlichkeit wecken. Die Menschen auf der Arbeitsebene müssen die Lösungen wollen. Ein klassisches Change Management Thema.
  3. Descoping. Die eierlegende Wollmilchsau braucht niemand und erreicht auch niemand. Iterativ oder besser noch agil vorgehen und eine kleine Baustelle nach der anderen integrieren. Dabei das große Ganze und die Zukunftsvision nicht vergessen.

 

Blicken wir einmal auch ein wenig in der Zukunft und versetzen uns mal in das Jahr 2028. Was denken Sie, was wird dann aus diesem PLM geworden sein. Ist das dann ein gelöstes Problem, das wenig Überraschungen mehr bietet? Oder welche Herausforderungen werden wir dann lösen müssen?

Sicher wird PLM kein final gelöstes Problem sein. In den letzten Jahren sind immer mal wieder Dinge in PLM rein- und wieder rausdefiniert worden. Das wird auch in Zukunft so gehen. Insofern ist das „Problem“ PLM nicht statisch beschrieben. Eine große Herausforderung, die ich sehe ist das Thema Definition von Produktdaten.

Heute machen wir PLM oft im Kontext diskreter Fertigung. Wie sieht das ganze aus, wenn das Produkt nur noch eine Dienstleistung ist? Wie gehen wir mit immer mehr Prozessdaten um? Was machen wir mit den Daten eines Asset Network? Und weitere neue Business-Modelle stehen in den Startlöchern, die wir heute nicht verstehen. Das iPhone ist 10 Jahre alt. Die Veränderung der letzten 10 Jahre hätte doch so kaum jemand vorhergesehen.

Abseits inhaltlicher Fragestellungen sehe ich einen gefährlichen Trend, dem Kind neue Namen umzuhängen, um PLM sexy zu machen. Das klappt meist leider nicht, weil es nur nicht erfüllbare Erwartungshaltungen schürt. Es wird neue Herausforderungen geben. Wir werden Sie mit PLM lösen. Ob wir es dann noch PLM nennen – ich hoffe schon!

 

Eine letzte Frage, die den Blick in Richtung der Softwareunterstützung richtet. Was wünschen Sie sich konkret von den PLM-Systemhäusern und auch den Dienstleistern? Wo können und müssen diese ihren Beitrag leisten, PLM zukunftsfähig zu machen?

Wie ich oben schon erwähnte: Offene Standards. Kaum jemand kauft sich eine fertige Suite und ersetzt in einem Schlag seine ganze Produktentstehungslandschaft. Darüber hinaus wünsche ich mir eine andere Dimension der Modularität. Ich polarisiere etwas: Heutige Systeme wirken wie funktionsüberfrachtete Monster. Man steckt mehr Geld hinein, vorhandene Funktionalität vor experimentierfreudigen Anwendern zu verstecken, als nützliche Funktionen bereitzustellen. Ich möchte nicht One-Size-Fits-All. Ich will einen Maßanzug. Aber bitte ohne stundenlang beim Schneider stehen zu müssen.

Vielen Dank für dieses Gespräch und weiterhin viel Erfolg bei Ihren Projekten.

Geschnitten oder am Stück – Wie fange ich am besten an mit diesem PLM?

That’s one small step for man, one giant leap for mankind.“ Mit Neil Armstrongs berühmten Worten bei Betreten des Mondes möchte ich meinen heutigen Blogartikel beginnen. Wenn man vor einer Einführung oder vor dem Systemwechsel eines PLM-Systems steht, ist der erste Schritt auch sehr entscheidend. Jetzt vielleicht nicht für die gesamte Menschheit, aber doch für das jeweilige Unternehmen.

Ein PLM-System dient nunmal der Abbildung bzw. der Unterstützung aller produktrelevanten Prozesse von der ersten Idee bis zum Ende des Produktlebenszyklus. Klassisch werden dabei Prozesse aus den Unternehmensbereichen wie dem Vertrieb, Marketing, Produktmanagement, Konstruktion und Entwicklung, Fertigung, Qualitätsmanagement, Zulieferintegration und dem Service abgebildet bzw. berücksichtigt. Ablaufdiagramme und Beschreibungen aus diesen Bereichen und damit Anforderungen an ein PLM-System werden dann in ersten Dokumenten für die PLM-Systemauswahl aufgeschrieben. Ein oder zwei Bereiche dominieren dabei und setzen die wichtigsten Prioritäten – das sind dann auch diejenigen Anwender, die sich den größten Nutzen vom PLM-System versprechen. Und auf deren Kostenstelle werden dann auch die Aufwände dafür gebucht. Und wie sagt der Volksmund so schön: Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt auch die Musik. Das führt dann im Benchmark verschiedener PLM-Systeme als auch in der Scopedefinition der ersten Einführungsphase zu einer Fokussierung auf die Anforderungen aus diesen Abteilungen.

Auch in meiner beruflichen Vergangenheit gab es viele Projekte, die aus dem Engineering und der Produktentwicklung getrieben wurden. Das sind ganz unbestritten äußerst wichtige Stakeholder. Die Anforderungen aus dem Vertrieb, QM und anderen Bereichen sollten dann in weiteren Projektphasen implementiert werden.

Dieser Fokus auf einen dominierenden Bereich und das Fokussieren auf dessen Anforderungen ist aber nicht ohne Risiko. Es führt zu einem nahezu perfekt ausgewählten und angepasstem PLM-System für diese Abteilung. Aber es ist nicht zwingend die beste Lösung, das beste System für den gesamtem PLM-Scope. Dafür sind die Anforderungen aus anderen Bereichen der PLM-Wertschöpfungskette doch zu unterschiedlich. Um es etwas konkreter darzustellen: Der Produktentwicklungsfokus in der PLM-Systemauswahl führt zur Auswahl eines Systems mit Stärken im Produktdatenmanagement und in der CAD-Integration. Schwierig wird es meist dann, wenn dieses System dann auch das Qualitätsmanagement oder den Service unterstützen soll. Ebenso kann es dazu führen, dass die Komplexität des Lizenzmanagements als auch die Aufwände bei Systemupgrades des PLM-Systems unterschätzt werden. PLM ist kein Tool für Spezialisten, sondern das Rückgrat eines Industrieunternehmens.
Aber wie kann man jetzt dieses Problem vermeiden? In der Softwareentwicklung gibt es seit Langem den Ansatz eines “Minimum-Viable-Produkt MVP“. Ich zitiere hier der Einfachheit halber aus der Wikipedia: „Ein Minimum Viable Product (MVP), wörtlich ein “minimal überlebensfähiges Produkt”, ist die erste minimal funktionsfähige Iteration eines Produkts, das entwickelt werden muss, um mit minimalem Aufwand den Kundenbedarf zu decken und Feedback zu gewährleisten.“ Dieser Ansatz kommt aus dem Konzept des Lean-Startups und aus meiner Erfahrung heraus kann es hervorragend in die PLM-Systemauswahl übertragen werden. Das PLM-MVP enthält die minimalsten Anforderungen und vermeidet so das oben geschilderte Problem einer zu starken Dominanz eines Bereiches. Aber wie erstellt bzw. definiert man ein PLM-MVP? Folgende Hinweise kann ich dabei aus meiner Praxis beisteuern:

Anforderungen MVP PLMDas richtige Produkt bzw. Projekt auswählen:

Für ein minimal-überlebensfähiges PLM benötigt man ein passendes Produkt und das dazu passende Entwicklungsprojekt. Stellen Sie sich die Frage nach einem ganz typischen Vertreter, nach Ihrem „Brot-und-Butter“ Produkt. An diesem wird dann die Prozesskette ihrer Wertschöpfung durchlaufen und die Anforderungen an ihr PLM definiert. Die Arbeit an einem konkreten Beispiel erleichtert die Anforderungsanalyse immens, da die Stakeholder weniger Abstraktionsvermögen aufbringen müssen und sehr konkret beschreiben können, wo der Schuh drückt.

Mehr in die Breite gehen – ein PLM-MVP darf ruhig einen hohen BMI haben
Es werden die Anforderungen nicht an den Grenzen der dominierenden Abteilung geschnitten, sondern es wird bewusst in die (Prozess-)Breite gegangen. Die wichtigsten Anforderungen aus allen wertschöpfenden Bereichen werden betrachtet. Das sieht zuerst einmal nach deutlich mehr Anforderungen aus, aber ich komme gleich noch dazu, wie man diese dann wieder auf erträgliche und in einem PLM-Systembenchmark handhabbare Anzahl reduzieren kann. Wichtig ist nur, dass eben alle Bereiche gleichberechtigt berücksichtigt werden und die Fokussierung auf einen vermieden werden.

Ecken und Freistösse – Standardsituationen
Eine bewährte Möglichkeit zur Reduzierung von Anforderungen ist die Beschränkung auf den Standardablauf in Ihren Prozessen. Beschränken Sie sich dabei einzig auf den normalen Ablauf ohne die ganzen Ausnahmen und Sonderfälle, die natürlich im realen Leben vorkommen können. Es ist also nicht wichtig, in einem PLM-MVP jede dieser Ausnahmen und Abzweigungen zu berücksichtigen. Oder, wenn diese Abbildung dieser „Sonderlocken“ sehr wichtig ist, beschränken sie sich auf ein prägnantes Beispiel. Es ist nicht notwendig, bei jeder Prozessaktivität zu prüfen, ob das zukünftige PLM-System eine Delegation dieser Aufgabe ermöglicht oder ob Eskalationspfade implementiert werden können. Das gleiche gilt für die Abbildung von parallelen Pfaden oder das Ansprechen von Sub-Workflows. Das muss maximal einmal geprüft werden und nicht in allen Bereichen.

Die Liebe zu Details
Die Konzentration auf den Standardablauf hilft Ihnen auch, sich nicht in Details zu verlieren. In der Bestimmung der Anforderungen für eine Systemauswahl benötigen man einen gewissen Mut zur Lücke. Die Details werden dann im Rahmen der Implementierung noch genügend gewürdigt. Ich habe sehr gute Erfahrung mit Story Maps gemacht und konnte mit diesem Hilfsmittel die notwenige „Flughöhe“ beim Betrachten der Anforderungen einhalten. Zu viele Details erhöhen nicht nur die Anzahl der Anforderungen und somit den Aufwand für die Verwaltung, sondern schränken auch den Lösungsraum der PLM-Systemhersteller ein. Vielleicht hat ja der ein oder andere eine viel bessere Lösung für das Erfüllen einer groben Anforderung, als das die Details dann zulassen würden?

Prioritäten setzen
Anforderungsmanagement ist selten demokratisch und das gilt noch in besonderer Weise in einer Systemauswahl. Einige Anforderungen sind eben wichtiger als andere und diese gilt es herauszufinden. Zwei Aspekte können dabei helfen:

  • Wie groß ist der Einfluss dieser Anforderung auf den weiteren Prozessablauf? Was würde passieren, wenn man diese Anforderung nicht implementiert? Mit diesen Fragen können Sie die Kandidaten identifizieren, die für einen Bereich vielleicht sehr wichtig sind, aber dessen Einfluss auf den gesamten PLM-Kontext eher gering ist.
  • Wie ist der Einfluss dieser Anforderung auf den PLM Business Case? Die Antwort auf diese Frage findet man bei User Stories recht schnell. Falls es schwierig ist, den Teil nach „so that …“ oder „um …“ zu formulieren, dann ist das genau eine Anforderung mit einem zweifelhaften Einfluss auf den Business Case. Und damit eher keine Anforderung für die Top-Charts. Auch wenn man nicht mit User Stories arbeitet, kann die Frage nach dem Business-Impact auch bei Use Cases oder jeder anderen Form der Anforderungsdefinition gestellt werden.

Es gibt mit Sicherheit noch weitere hilfreiche Methoden, um zu geeigneten Anforderungen für eine Systemauswahl zu kommen. Mein Artikel erhebt gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wichtig war mir aber auf die Probleme der Dominanz eines Bereiches in der Systemauswahl hinzuweisen und mit dem MVP-Ansatz eine Lösung dafür zu beschreiben.