Herzlich willkommen auf meiner virtuellen Blogcouch, Herr Prof. Eigner. Ich freue mich sehr, dass Sie sich ein wenig Zeit für dieses Interview nehmen. Sie selbst muss ich dem geneigten Leser nicht mehr vorstellen, Ihr Name ist untrennbar mit dem PLM verbunden. Aber können Sie vielleicht zum Einstieg ein paar Worte zu Ihrem Lehrstuhl für virtuelle Produktentwicklung an der Universität Kaiserslautern sagen?
Prof. Martin Eigner: Der Lehrstuhl für Virtuelle Produktentwicklung (VPE) verfügt über umfangreiche Erfahrungen in der Entwicklung und Bereitstellung von Methoden und Konzepten zur Optimierung aller Phasen des Engineeringprozesses und adressiert mit seinen Arbeiten insbesondere Anforderungen, die sich aus der Umsetzung des „Industrial Internet“ (Industrie 4.0 sowie Internet der Dinge und Dienste) ergeben. Hierbei sind alle Lebenszyklusphasen eines Produkts einzubeziehen, wie zum Beispiel die interdisziplinäre und integrierte Entwicklung, Prozessplanung, Fertigung und Montage sowie Dienstleistungen. Zukünftig werden intelligente, über das Internet und andere Dienste miteinander vernetzte und kommunizierende Produktsysteme alle Industrien erfasst und viele der herkömmlichen, mechanischen und mechatronischen Produkte abgelöst haben. Das Interesse an weiteren Funktionen und Applikationen für künftige Software-Lösungen zur Verwaltung der Daten solcher Systeme wächst ständig und eine effektive Ausgestaltung des Lebenszyklus der Systeme ist zwingend erforderlich. „System Lifecycle Management (SysLM)“, ein Begriff, der sich mehr und mehr national und international durchsetzt, wird hierzu auch vom VPE als nächste Stufe von Product Lifecycle Management (PLM) auf- und ausgebaut und als Schlüsselkonzept zur detaillierten Ausgestaltung nach dem Ansatz des Industrial Internet angesehen. Dabei geht der Trend eindeutig in flexible, föderierte und leichtgewichtige Backbone Lösungen, die mit RDF/REST Technologien mit der Autoren- und TDM-Systemebene vernetzt sind.
Welche Schwerpunkte in der Lehre und Forschung setzen Sie gerade aktuell? Gibt es die ein oder andere Promotion oder eine andere Veröffentlichung, die besonders erwähnt werden sollte?
Prof. Martin Eigner: Das VPE stellt seine Kompetenzen in vielen Projekten mit Partnern aus der Industrie und Forschung zur Verfügung. Die Forschung innerhalb aller Kompetenzfelder des Lehrstuhls zeichnet sich durch eine hohe Anwendungsorientierung aus. Die Aktivitäten von VPE haben Themen aus dem System Lifecycle Management zum Schwerpunkt. Eng damit verknüpft sind die Themengebiete „Model-Based Systems Engineering (MBSE)“ sowie „Vernetzte IT-Toolketten und Standards“. Arbeiten zu den Themengebieten „Industrial Internet“ und „Nachhaltigkeit“ adressieren aktuelle Herausforderungen an eine moderne, interdisziplinäre und integrierte Entwicklung smarter Produktsysteme sowie Dienstleistungen. Als Beispiele solcher Arbeiten seien die erste Integration eines SysML Systems mit einem handelsüblichen PLM-System und die Entwicklung eines Prototyps für einen vernetzten Engineering Backbone auf der Basis eines handelsüblichen PLM Repositories und WEB Technologien genannt. Beide Prototypen wurden von Partnerfirmen (XPLM und Aras) industrialisiert. Der Engineering Backbone wird gerade von Aras bei Schaeffler mit 20.000 Arbeitsplätzen installiert.
Auf den PLM-Tagungen und Konferenzen des letzten Jahres war der von Ihnen geprägte Begriff des „Digital Model“ und „Digital Twin“ in aller Munde. Können Sie den Lesern erläutern, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt?
Prof. Martin Eigner: Ein digitales Model ist ein digitales Abbild aller Produkt-relevanten Informationen über den Produktlebenszyklus über alle Disziplinen und die Zulieferkette. Das digitale Modell umschließt verschiedene IT-Infrastrukturebenen:
- Autorensystemebene, z.B. SysML-, CAD-, CAM-, CAE-Systeme, die im Wesentlichen die Informationen generieren.
- Team Data Management (TDM) Ebene, die die autorensystemnahe Verwaltung der Daten ermöglicht. Je nach TDM-Klasse sind die Systeme bereits mit Administrationsfunktionen ausgestattet, z.B. einfaches Revisions- und Versionsmanagement.
- PLM Backbone, der die Integration der verschiedenen Modelphasen und IT-Infrastrukturebenen integriert und die typischen Engineeringprozesse (ERM, ECM, CM) umsetzt. Er ist damit auch der sogenannte Digital Thread, der die Produktkonfiguration und damit die Rückverfolgbarkeit des Produktes garantiert.
Zwischen den Ebenen und den Produktlebenszyklusphasen liegen vielfältige Formen der Kommunikation vor. Bei der digitalen Modellierung werden zwei Begriffe unterschieden:
- das auftragsneutrale Digitale Modell bzw. der Digital Master (Man spricht beim digitalen Master auch häufig von einem sogenannten 150% Modell, um auszudrücken, dass das digitale Modell i.d.R. nicht auftragsspezifisch ist, sondern alle Komponenten über alle Baukästen und Varianten einschließt) und
- der auftragsspezifische und vereinzelte bzw. instanziierte Digitale Zwilling bzw. Digital Twin
Ein Digitaler Zwilling (DZ) eines Produkts stellt ein virtuelles instanziiertes Abbild eines realen Produktes dar. Er enthält Informationen über die real konfigurierten Produktfunktionen (dient der klaren Differenzierung von Produktvarianten untereinander), die überwachbaren Produkt- und Umgebungsparameter, die aktuell gemessenen Parameterwerte sowie den Zustand der einzelnen Produktfunktionen inkl. deren Restdauerabschätzungen. Der DZ existiert im Prototypen- und Produktionsbereich schon immer, ohne so genannt zu werden. Interessant ist heute der DZ im Bereich serviceorientierter Geschäftsmodelle. Dort dient er vor allem der Rückverfolgbarkeit von Änderungen durch Wartung und Aufrüstung. Es werden nur Informationen im servicerelevanten DZ abgelegt, die vom Produzenten als relevant für die Nachverfolgung definiert werden. Er ist immer ein verkürzter aktueller Snapshot des physischen Produktes.
Was ist die größte Herausforderung, dieses „Digital Model“ und diesen „Digital Twin“ in das tägliche PLM-Leben zu überführen? Wo sehen Sie hier die Protagonisten der PLM-Community gefordert?
Prof. Martin Eigner: Wenn man sich heutige PLM Implementierungen anschaut, sind diese nicht immer vom Erfolg gekrönt. Es sieht eher nach dem Motto „als Tiger springen und als Bettvorleger landen“ aus. PLM Systeme sind komplex zu customisieren – werden vielfach übercustomisiert – und müssen bei jedem Upgrade der PLM Basisversion nachcustomisiert werden. 80% der „PLM“ Einführungen decken die Phase Entwicklung und Konstruktion mit dem Schwerpunkt der M-CAD Verwaltung ab. Daran erkennt man das Problem: Die Differenz zwischen Istzustand und Vision. Mit der deutschen Übergründlichkeit bei der Systemanpassung und den heutigen PLM Technologien und Geschäftsmodellen wird es schwierig sein, die genannten Zielsetzungen zu erreichen.
Aus Ihrem universitärem Blickwinkel heraus betrachten Sie das Thema PLM unabhängig von Systemherstellern oder Dienstleistern. Welche Entwicklung in den letzter Zeit fanden sie aber besonders bemerkenswert oder was hat sie eventuell sogar überrascht?
Prof. Martin Eigner: Ansätze wie “bimodale PLM / IT” (Gartner, 2016) oder “Digital PLM” (Accenture, 2016) deuten in ähnlicher Weise wie SysML (VPE) die Notwendigkeit einer Evolution an:
- Von Dokument-basiert zu Modell-basiert
- Von hierarchischen- (herkömmlichen Stücklisten der Hardware) bis hin zu Netzwerk- (MBSE) und linearen Strukturen (Software)
- Aufteilung der Anwendungsdaten und Metadaten auf Basis eines objektorientierten Repository
- Von monolithischen zu föderierten und leichtgewichtigen Systemen, die auf referenzierte bzw. verknüpften Daten. Die dazu notwendigen IT-Technologien basieren auf dem objektorientierten Repository und REST
- Bereitstellung auf unterschiedlichen Cloud-Level (IaaS, PaaS und SaaS)
- Unterstützung der typischen Engineering Prozesse wie z.B. Engineering Change Management (ECM) und Configuration Management (CM) für Mechanik, Elektrik / Elektronik und Software sowie Ableitung von Digitalen Zwillingen für Einsätze in Produktion und Service
- Agile Einführung und betriebliche Anpassung durch überwiegend interaktive Konfiguration anstatt durch prozedurales Customizing
- Automatischer Übernahme aller betrieblicher Anpassungen (Konfiguration und Customizing) bei Upgrade des Basissystems
- Neue flexible Geschäftsmodelle auf Basis von Subscriptions anstatt Lizenzen
Gartner (Marc Halpern) zählt Aras und Onshape zu den Bimodalen Systemen (PDT Europe 2016).
Denken wir mal fünf bis zehn Jahre voraus. Ist dann der Begriff „ PLM” in diesem „Digital xyz“ oder Industrie x.0 aufgegangen oder wo werden wir dann damit stehen?
Prof. Martin Eigner: Die Komplexität heutiger PLM-Architekturen und Einführungsstrategien ist bereits sehr hoch und die zu erwartende weitere Zunahme durch cybertronische Produkt- und Produktionssysteme wird diesen Trend verstärken. Die Nachvollziehbarkeit über den gesamten Produktlebenszyklus, über die Disziplinen und die Lieferkette muss jederzeit gewährleistet sein, um den Engineering Prozess zu beherrschen und zu dokumentieren. Als Erweiterung von PLM sehe ich das System Lifecycle Management (SysLM) als nächsten Schritt. Bimodales SysLM ist das Engineering-Backbone-Konzept für Produktentwicklung und Lifecycle Management im Rahmen des Industrial Internet und für integriertes und interdisziplinäres Model Based Systems Engineering (MBSE), Product Line Engineering (PLE) und Service Lifecycle Engineering (SLE).
Prof. Eigner, ich möchte Ihnen für dieses aufschlussreiche Gespräch danken und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg und gutes Gelingen bei Ihren Projekten.