Das PLM-Leben ist nicht ohne Risiko

Wir alle absolvieren in diesen Zeiten eine medizinische Ausbildung. Vor ein paar Monaten wusste noch niemand, was ein Inzidenzwert ist. Heute kann den jeder im Kopf ausrechnen und den Verlauf über die letzten Woche grafisch darstellen.

Das unser Leben risikobehaftet ist, kann niemand abstreiten. In der Medizintechnik spielt dieses Risiko schon immer eine wichtige Rolle. Der Einsatz von Medizingeräten ist oft ein Abwägen des Nutzens gegen die damit einhergehende Gefahr eines Schadens.

Dazu ein anschauliches Beispiel: Mit einem Skalpell wird während einer Operation einem Patienten eine Wunde zugefügt. Ohne den medizinischen Kontext wäre das eine vorsätzliche Körperverletzung.  Aber ohne die Inkaufnahme dieser Verletzung kann man eben auch nicht das Krebsgeschwür entfernen, dass sich im Körper ausbreitet. Der Nutzen (Geschwür entfernen) überwiegt dem Schaden (Wunde). Dabei muss natürlich alles dafür getan werden, diese Verletzung möglichst gering zu halten und den daraus entstehenden Schaden zu begrenzen.

In der Entwicklung von Medizingeräten ist die Analyse und Bewertung von Risiken und den damit verbundenen Schäden ein essentieller Bestandteil des Produktentwicklungsprozesses. In diesem Prozess muss eine Risikoanalyse durchgeführt werden, um eine möglichst geringe Gefährdung von Patienten und des medizinischen Personals sicherzustellen.

Diese Forderung schlägtsich in den einschlägigen Normen und Standards wie der ISO 14971 nieder. Es wird die Durchführung und Dokumentation der Risikoanalyse, Risikobewertung, Risikokontrolle und Informationen aus der Produktion und der Produktion nachgelagerten Phasen verlangt.

In diesem Artikel möchte ich aber gar nicht diese Prozesse tiefer betrachten. Dafür gibt es Qualitätsmanagement-Experten, die sich richtig gut damit auskennen. Es geht mir eher um die Beantwortung der Frage, wie PLM das Risikomanagement unterstützen kann und man so zu einer höheren Effektivität  (die richtigen Dinge tun) und Effizienz (die Dinge richtig tun) gelangt. Aus meiner Erfahrung heraus konnte ich folgende Dinge identifizieren:

Integration des Risikomanagement in den digital Thread des Medizinproduktes

Das Risikomanagement als Teil des Produktentwicklungsprozesses benötigt als Eingangsgröße valide Produktdaten – schließlich müssen die Risiken des bestimmungsgemäße Gebrauch des Medizinp

roduktes analysiert und bewertet werden. Diese Produktdaten sind aber keineswegs statisch, sondern ändern sich. Das Speichern des Entwicklungstandes, zu dem eine Risikobewertung erstellt wurde, ist essentiell wichtig. Außerdem werden Dinge richtig getan, wenn der Risikoanalyst sich nicht seine Produktdaten aus verschiedenen Quellen zusammensuchen muss, sondern sich auf Gültigkeit und Datenqualität verlassen kann.

Aufbrechen der Risikobewertung innerhalb der Produktstrukturen und Stücklisten

Gerade Medizingeräte sind äußerst innovativ und beinhalten komplexe Strukturen – sei es aus tiefen Stücklisten aus z. B. der mechanischen Konstruktion oder, weitaus öfter, weil das Produkt aus mechanischen, elektrischen, elektronischen und Software-Komponenten besteht.  In neuerer Zeit kommen  auch immer mehr Services als integraler Produktbestandteil und somit eine weitere Komplexitätsebene dazu.

Das hat auch Auswirkungen auf die Risikobewertung. Die Risikoanalysten für die Software verlinken dann ihre Bewertungen mit dem Software-Baum der Produktstruktur. Der Lebenszyklus von Softwarekomponenten ist deutlich kürzer als der von mechanischen. Eine saubere Verlinkung der Risikobewertung in die jeweiligen Sub-Bäume hilft, beides  voneinander zu trennen und somit die unterschiedlichen Bedürfnisse der Softwerker und Mechaniker zu befriedigen. Eben die Dinge richtig zu tun.

Aufbrechen der Risikobewertung entlang des Produktlebenszyklus

Eine Produktentwicklung in der Medizintechnik startet mit der Definition des Design Inputs, also der Definition eines ersten “Intended Use” und der Aufnahme der Anforderungen an das Medizinprodukt. Aufgrund der bereits angesprochenen Produktkomplexität wird das zukünftige Medizinprodukt in funktionale, systemische oder logische Bestandteile strukturiert. Eine Preliminary Hazard Analysis (PHA) sorgt für erste Ergebnisse. Diese Methode konzentriert sich auf die Identifizierung von Schwachstellen in einem frühen Stadium der Lebensdauer eines Systems und spart so Zeit und Geld, die für ein größeres Redesign erforderlich wären, wenn die Gefahren zu einem späteren Zeitpunkt entdeckt würden. Daher haben PHAs einen Bezug zum Systemdesign und damit zur funktionalen und logischen Produktstruktur.

Ganzheitliches Änderungswesen

Das Aufbrechen der Risikoanalyse in sinnvolle Bestandteile und da damit einhergehende genau Verlinkung der Eingangs- und Ausgangsdaten in das Produktdatenmodell erlauben dann eine vollständige und schnelle Auswirkungsanalyse von Änderungen. Dann zahlen sich die bisher gelegten Grundlagen aus, in dem entlang des digital Threads nachvollzogen werden kann, welche Daten wie zusammenhängen und somit eine vollständige Analyse der betroffenen Produktdaten möglich ist. Das spart immens Zeit und erhöht die Qualität, gerade auch im Hinblick auf die Risikobewertungen. Wenn diese Bestandteil sauber in den digital Thread integriert sind, können notwendige Änderungen und Anpassungen auch getriggert und nachvollzogen werden.

Aber dieser signifikante Einspar- und Qualitätseffekt steht und fällt mit der Vollständigkeit aller Einzelfäden. Fehlen einige, enstehen Löcher im Datenmodell, die sehr aufwendig manuell geflickt werden müssen.

Aktivitätsnachverfolgung

PLM-Systeme bilden Wertschöpfungsprozesse ab und in diesen fallen Aktivitäten und Aufgaben an. Diese Aufgaben werden den jeweiligen Verantwortlichen zugestellt und deren Abarbeitung nachvollziehbar gespeichert. Reviews und Freigaben von Daten und Dokumenten werden im Audit Trail gespeichert.

Auch im Risikomanagementprozess fallen Aufgaben an und auch dort müssen Daten und Ergebnisse überprüft und freigegeben werden. Das betrifft insbesondere die Maßnahmen zur Mitigation von Risiken.

Die Funktionen des PLM-Systems sollten dafür genutzt werden. So kann allen Anwendern eine Single Source of Arbeitsvorrat zur Verfügung gestellt werden und deren Abarbeitung nachvollziehbar gespeichert werden.

Unterstützung des Reportings, Datenaufbereitung und -nachverfolgung

Am Ende müssen die einzelnen Fäden der Risikobewertung auch wieder zusammenlaufen. Auf der Ebene des Medizinproduktes ist eine komplette Sicht auf alle Bestandteile der Risikobewertung unabdingbar. Schließlich muss sichergestellt werden, dass alle Schritte des Risikomanagements durchlaufen wurden.  Zur Dokumentation wird oft ein Risk Management Report verwendet.

Wenn die Risk Management Reports nachvollziehbar mit den Revisionsständen der Produktdaten verknüpft sind,  hat das entscheidenden Einfluss auf die Effizienz und Effektivität:  Es wird die richtigen Dinge getan, da der Entwicklungsstand und Reifegrad des Medizinproduktes mit dem Stand der Risikobewertung fest verknüft ist.  Und es werden Dinge richtig getan, da an der Entwicklung des Medizinproduktes und an der damit verbundenen Risikobewertung sofort weiter gearbeitet werden kann und die historischen Relationen erhalten bleiben. Ähnliches gilt natürlich auch für die Bildung von Produktvarianten und Produktfamilien.

Unterstützung vom Wiederverwendung

Eine komplette Neuentwicklung eines Medizinproduktes erfolgt doch nur in seltenen Fällen. Der weitaus häufigere Anwendungsfall ist doch, dass ein vorhandenes Produkt angepasst wird. PLM-Systeme unterstützen vielfach diese Szenarien durch Funktionen im Produktenwicklungsmodul, z.B. durch die intelligente Kopieren und Anpassen von Stücklisten und Produktstrukturen. Wenn von dieser Intelligenz nicht nur Bauteile und Baugruppen erfasst werden, sondern auch die Daten der Risikoanalyse, dass werden wieder Dinge richtig getan. Wiederverwendnung spart auch hier Zeit und Aufwand.

Alle diese Aspekte führen zu einer oft diskutierten Abwägung der Ver- und Nachteile einer speziellen Risikomanagement-Software gegenüber der Nutzung von Funktionen im PLM-System. Das PLM System bildet das Rückgrat für alle Produktdaten und steuert die damit verbundenen Wertschöpfungsprozesse. Hier laufen die Fäden zusammen, die dann zu einem vollständigen Digital Thread des Medizinproduktes zusammengefügt werden.

Ob alle Einzelfäden auch im PLM-System erzeugt werden müssen oder manche auch von Spezialsystemen kreiert werden können, ist eine unternehmens- und anwendungsfallspezifische Abwägung. Entscheidend ist nur die Integration, das Risikomanagement darf nicht als Dateninsel isoliert existieren.

Dinge richtige tun und richtige Dinge tun, beides steht und fällt mit der Integration von Daten. Und das ist genau der Kern eines PLM, die Verbindung von Daten, Prozessen, Systemen und den Anwendern.