Der PLM-Talk: Heute mit Dr. Christian Klüber-Demir

Herzlich Willkommen auf meiner virtuellen Blogcouch, Herr Dr. Klüber-Demir. Machen Sie es sich bitte recht bequem. Ich freue mich sehr, einen ausgewiesenen Experten aus der Medizintechnik begrüßen zu dürfen – einer Branche, die seit Monaten im Fokus der Öffentlichkeit steht. Für Leser, die noch keine Berührungspunkte mit Ihnen hatten, können sie sich bitte kurz vorstellen?

Dr. Christian Klüber-Demir, experte für das Supply Chain Management in der MedizintechikDr. Christian Klüber-Demir:

Ja gerne, und erst mal besten Dank für die Einladung! Ich habe ursprünglich an der RWTH Aachen und der Universität Wien Werkstoffwissenschaften studiert und am Max-Planck-Institut Düsseldorf geforscht und promoviert, bevor ich zu einem traditionellen Hersteller von Stahlrohren gewechselt bin.
Dort habe meine ersten Erfahrungen im Qualitätsmanagement gesammelt, bevor ich dann erst in die Halbleiterindustrie und während der Finanzkrise weiter in die Medizintechnik gewechselt bin.
In den letzten 15 Jahren habe ich mich dabei meist mit dem Thema Lieferantenqualität beschäftigt, in der großen Spannweite von Halbzeug-und Standardteil-Zulieferern für die Eigenfertigung bis zu OEM- oder Handelswarenlieferanten von Medizinprodukten.

Die Prozess- und Systemintegration ist eine Kernaufgabe einer PLM-Strategie und gerade in Medizintechnikunternehmen kommt dabei dem Qualitätsmanagement in der Zuliefererkette eine besondere Bedeutung zu. Rückblickend auf ihre langjährige Berufserfahrung, was waren dort die größten Herausforderungen die es zu meistern galt.

Nach meiner Erfahrung gab zwei Herausforderungen, die uns besonders großes Kopfzerbrechen gemacht haben:
Zum einem fehlte es an eigenen ausgereiften Prozessen zur Qualifikation von Lieferanten und von zugelieferten Komponenten oder Produkten. Die Organisationen, in denen ich aktiv war, hatten immer eine starke Entwicklungsabteilung und Eigenfertigung. Und dort hat man sich in der Medizintechnik über die letzten Jahre viel u.a. von der Automobilindustrie abgeschaut, z. B. das Thema Prozessvalidierung.
Aber die Beschaffung von Komponenten für die Eigenfertigung oder auch von fertigen Medizinprodukten als Handelswaren wurde eher stiefmütterlich behandelt. Dazu waren die jeweiligen Einkaufsorganisationen auch gar nicht ausreichend auf die regulatorischen Anforderungen geschult und es gab keine guten Prozesse. Es hat viel Zeit gekostet, dafür zu werben, dass Zukaufteile dieselben Anforderungen erfüllen müssen wie die Eigenfertigung, zumal der Unterschied für den Kunden ja gar nicht sichtbar ist.
Und da spannt sich dann auch der Bogen zur zweiten großen Herausforderung auf:
Wir wussten anfangs viel zu wenig über unsere Lieferanten und wurden regelmäßig überrascht, wenn wir genauer hingeschaut haben! Obwohl ich mich im Halbleiterbereich ja schon mit dem Lieferantenqualitätsmanagement beschäftigt hatte, waren die Ergebnisse in der Medizintechnik zum Teil erschreckend! Dafür musste man nicht mal in irgendwelche Billiglohnländer schauen, die deutschen Medizintechnik-Zulieferer zeigten und zeigen ein riesiges Spektrum vom professionellen Hersteller, der deutlich reifere Prozesse hat als wir selber, bis zur Ein-Mann-Fertigung von Medizinprodukten auf der Drehbank im eigenen Wohnzimmer – ohne Prozesse, kalibrierte Messmittel, Prüfkonzept und ordentliche Dokumentation. Ich hätte damals gar nicht für möglich gehalten, dass es solche Firmen in Deutschland noch gibt.
Wir haben dabei vor allem gelernt, uns nicht mehr auf Zertifizierungen nach ISO 9001 zu verlassen, weil sie wenig über die Reife der Organisation aussagen. Stattdessen haben wir mehr Energie in die Auswahl und Qualifikation neuer sowie das regelmäßige Monitoring vorhandener Lieferanten gesetzt – beides recht erfolgreich durch ausführliche Audits vor Ort.

Wenn man auf diese Herausforderungen zurückblickt, waren da die Ursachen eher der Gestaltung der Wertschöpfungsprozesse geschuldet oder wurden diese Prozesse einfach schlecht unterstützt, zum Beispiel durch eine ungeeignete IT-Infrastruktur?

Das Problem waren oft weniger die Systeme als mehr die damit abgebildeten Prozesse, die sozusagen noch in Revision 1 feststeckten, sowie ein fehlendes Verständnis der Organisation für die Notwendigkeit solcher Prozesse, um die Produktqualität abzusichern und die ständig strenger werdenden regulatorischen Anforderungen überhaupt noch erfüllen zu können.

Häufig lag der Schwerpunkt – obwohl der Preisdruck in dieser Branche sicher nicht so extrem ist wie in anderen Industrien – mehr auf kaufmännischen Aspekten wie Preis und Lieferzeiten. Dabei ist der Entwicklung regulatorischen Anforderungen auch eine Möglichkeit, sich von Wettbewerbern abzusetzen, die nicht die Kompetenz oder auch die kritische Größe haben, ein dediziertes Lieferantenmanagement aufzubauen.
Der Einfluss der IT-Infrastruktur wird dabei meiner Meinung nach vom Management häufig überbewertet. Natürlich ist eine funktionierende IT-Infrastruktur heutzutage unerlässlich, aber was häufig übersehen wird: Sie ist nur ein Tool, um gute Prozesse umzusetzen oder um Arbeit in diesen Prozessen zu vereinfachen: Bei Kritik an der IT merkt man bei genauem Hinschauen oft, dass nicht die Software das Problem ist, sondern ein holpriger oder fehlender Prozess, den diese Software jetzt per Knopfdruck abbilden und vereinfachen soll. Das kann natürlich nicht funktionieren.

Was hätten Sie sich den konkret an Hilfe und Unterstützung gewünscht?

PLM problemlösungsketteVermutlich benötigt es viel mehr Beratung und Analyse der vorhandenen Prozesse und Strukturen, bevor man eine IT-Infrastruktur aufbaut und neue Software einführt – da wäre eine bessere Beratung und eine schonungslose Analyse durch den externen Anbieter hilfreich. Es benötigt, vor allem in größeren, schwerfälligeren Organisationen, einen Lernprozess:
Es ist der falsche Weg, kommerzielle Lösungen langwierig, teuer und fehleranfällig zu “customizen”, um sie an die vorhandenen aber veralteten Prozesse einer Organisation anzupassen. Stattdessen muss der Status Quo zunächst analysiert, Prozesse aktualisiert werden. Und manchmal muss man dann die Prozesse auch an die Softwarelösung anpassen, um das Optimum herauszuholen.

Die Digitalisierung schlägt auch in die Zulieferkette immer mehr durch und Prozessabläufe und der Datenaustausch werden  elektronisch gestaltet und automatisiert. Welche positiven Effekte sehen Sie denn aus der Sicht des Qualitätsmanagements bei dieser Entwicklung?

Tatsächlich durfte ich in der Halbleiterindustrie lernen, wie man die Digitalisierung wirklich nutzt, um Ressourcen im Bereich Einkauf und Qualität zu entlasten und für wichtigeres zu nutzen: Bestellprozesse, Lagerüberwachungen aber auch die digitale Übertragung von Produktspezifikationen, Mess- und Prüfergebnissen und Zeugnissen waren dort selbstverständlich und eine echte Arbeitserleichterung. Die gewonnene Zeit haben wir in echte Lieferantenüberwachung investiert, zum Beispiel in regelmäßige Review-Meetings.

Gibt es auch negative Effekte dabei?

Wie schon beschrieben löst die Digitalisierung nicht das Problem schlechter Prozesse. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die
Organisation sich auf Software verlässt und Fehler sogar später erkannt werden. Ein schönes Beispiel aus einem anderen Unternehmen war die Beschaffung von Komponenten für ein schon obsoletes Produkt:
Die Prozesse des PLM hatten versagt, so dass Komponenten weiter bestellt, nach Ablauf der Mindesthaltbarkeit (kostenpflichtig) entsorgt und auf Grund einer hinterlegten Mindestlagermenge dann wieder neu bestellt wurden – in Summe fünf mal in fünf Jahren, bis endlich auffiel, dass dem inzwischen sechsstelligen Einkaufsvolumen kein Umsatz gegenüberstand.

Sie sind ein wichtiger Stakeholder und Key-User des PLM-Systems. Was würden Sie sich denn von den Herstellern dieser Systeme wünschen, um ihre tägliche Arbeit zu erleichtern?

Ich würde mir heute wünschen, dass die Hersteller solcher Systeme im Vorfeld ausführlicher beraten und viel schonungsloser klarmachen, wo ihre Systeme auf Grund vorhandener Schwächen in der Organisation des Kunden an ihre Grenzen kommen.
Ich stelle mir vor, dass das viele Kunden zunächst gar nicht gerne hören wollen, aber für den langfristigen Erfolg und eine zufrieden stellende Zusammenarbeit ist es meines Erachtens unerlässlich.

Herzlichen Dank, Herr Dr. Klüber-Demir für dieses erkenntnisreiche Gespräch. Ich wünsche Ihnen für Ihre weiteren Projekte maximale Erfolge.