„That’s one small step for man, one giant leap for mankind.“ Mit Neil Armstrongs berühmten Worten bei Betreten des Mondes möchte ich meinen heutigen Blogartikel beginnen. Wenn man vor einer Einführung oder vor dem Systemwechsel eines PLM-Systems steht, ist der erste Schritt auch sehr entscheidend. Jetzt vielleicht nicht für die gesamte Menschheit, aber doch für das jeweilige Unternehmen.
Ein PLM-System dient nunmal der Abbildung bzw. der Unterstützung aller produktrelevanten Prozesse von der ersten Idee bis zum Ende des Produktlebenszyklus. Klassisch werden dabei Prozesse aus den Unternehmensbereichen wie dem Vertrieb, Marketing, Produktmanagement, Konstruktion und Entwicklung, Fertigung, Qualitätsmanagement, Zulieferintegration und dem Service abgebildet bzw. berücksichtigt. Ablaufdiagramme und Beschreibungen aus diesen Bereichen und damit Anforderungen an ein PLM-System werden dann in ersten Dokumenten für die PLM-Systemauswahl aufgeschrieben. Ein oder zwei Bereiche dominieren dabei und setzen die wichtigsten Prioritäten – das sind dann auch diejenigen Anwender, die sich den größten Nutzen vom PLM-System versprechen. Und auf deren Kostenstelle werden dann auch die Aufwände dafür gebucht. Und wie sagt der Volksmund so schön: Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt auch die Musik. Das führt dann im Benchmark verschiedener PLM-Systeme als auch in der Scopedefinition der ersten Einführungsphase zu einer Fokussierung auf die Anforderungen aus diesen Abteilungen.
Auch in meiner beruflichen Vergangenheit gab es viele Projekte, die aus dem Engineering und der Produktentwicklung getrieben wurden. Das sind ganz unbestritten äußerst wichtige Stakeholder. Die Anforderungen aus dem Vertrieb, QM und anderen Bereichen sollten dann in weiteren Projektphasen implementiert werden.
Dieser Fokus auf einen dominierenden Bereich und das Fokussieren auf dessen Anforderungen ist aber nicht ohne Risiko. Es führt zu einem nahezu perfekt ausgewählten und angepasstem PLM-System für diese Abteilung. Aber es ist nicht zwingend die beste Lösung, das beste System für den gesamtem PLM-Scope. Dafür sind die Anforderungen aus anderen Bereichen der PLM-Wertschöpfungskette doch zu unterschiedlich. Um es etwas konkreter darzustellen: Der Produktentwicklungsfokus in der PLM-Systemauswahl führt zur Auswahl eines Systems mit Stärken im Produktdatenmanagement und in der CAD-Integration. Schwierig wird es meist dann, wenn dieses System dann auch das Qualitätsmanagement oder den Service unterstützen soll. Ebenso kann es dazu führen, dass die Komplexität des Lizenzmanagements als auch die Aufwände bei Systemupgrades des PLM-Systems unterschätzt werden. PLM ist kein Tool für Spezialisten, sondern das Rückgrat eines Industrieunternehmens.
Aber wie kann man jetzt dieses Problem vermeiden? In der Softwareentwicklung gibt es seit Langem den Ansatz eines “Minimum-Viable-Produkt MVP“. Ich zitiere hier der Einfachheit halber aus der Wikipedia: „Ein Minimum Viable Product (MVP), wörtlich ein “minimal überlebensfähiges Produkt”, ist die erste minimal funktionsfähige Iteration eines Produkts, das entwickelt werden muss, um mit minimalem Aufwand den Kundenbedarf zu decken und Feedback zu gewährleisten.“ Dieser Ansatz kommt aus dem Konzept des Lean-Startups und aus meiner Erfahrung heraus kann es hervorragend in die PLM-Systemauswahl übertragen werden. Das PLM-MVP enthält die minimalsten Anforderungen und vermeidet so das oben geschilderte Problem einer zu starken Dominanz eines Bereiches. Aber wie erstellt bzw. definiert man ein PLM-MVP? Folgende Hinweise kann ich dabei aus meiner Praxis beisteuern:
Das richtige Produkt bzw. Projekt auswählen:
Für ein minimal-überlebensfähiges PLM benötigt man ein passendes Produkt und das dazu passende Entwicklungsprojekt. Stellen Sie sich die Frage nach einem ganz typischen Vertreter, nach Ihrem „Brot-und-Butter“ Produkt. An diesem wird dann die Prozesskette ihrer Wertschöpfung durchlaufen und die Anforderungen an ihr PLM definiert. Die Arbeit an einem konkreten Beispiel erleichtert die Anforderungsanalyse immens, da die Stakeholder weniger Abstraktionsvermögen aufbringen müssen und sehr konkret beschreiben können, wo der Schuh drückt.
Mehr in die Breite gehen – ein PLM-MVP darf ruhig einen hohen BMI haben
Es werden die Anforderungen nicht an den Grenzen der dominierenden Abteilung geschnitten, sondern es wird bewusst in die (Prozess-)Breite gegangen. Die wichtigsten Anforderungen aus allen wertschöpfenden Bereichen werden betrachtet. Das sieht zuerst einmal nach deutlich mehr Anforderungen aus, aber ich komme gleich noch dazu, wie man diese dann wieder auf erträgliche und in einem PLM-Systembenchmark handhabbare Anzahl reduzieren kann. Wichtig ist nur, dass eben alle Bereiche gleichberechtigt berücksichtigt werden und die Fokussierung auf einen vermieden werden.
Ecken und Freistösse – Standardsituationen
Eine bewährte Möglichkeit zur Reduzierung von Anforderungen ist die Beschränkung auf den Standardablauf in Ihren Prozessen. Beschränken Sie sich dabei einzig auf den normalen Ablauf ohne die ganzen Ausnahmen und Sonderfälle, die natürlich im realen Leben vorkommen können. Es ist also nicht wichtig, in einem PLM-MVP jede dieser Ausnahmen und Abzweigungen zu berücksichtigen. Oder, wenn diese Abbildung dieser „Sonderlocken“ sehr wichtig ist, beschränken sie sich auf ein prägnantes Beispiel. Es ist nicht notwendig, bei jeder Prozessaktivität zu prüfen, ob das zukünftige PLM-System eine Delegation dieser Aufgabe ermöglicht oder ob Eskalationspfade implementiert werden können. Das gleiche gilt für die Abbildung von parallelen Pfaden oder das Ansprechen von Sub-Workflows. Das muss maximal einmal geprüft werden und nicht in allen Bereichen.
Die Liebe zu Details
Die Konzentration auf den Standardablauf hilft Ihnen auch, sich nicht in Details zu verlieren. In der Bestimmung der Anforderungen für eine Systemauswahl benötigen man einen gewissen Mut zur Lücke. Die Details werden dann im Rahmen der Implementierung noch genügend gewürdigt. Ich habe sehr gute Erfahrung mit Story Maps gemacht und konnte mit diesem Hilfsmittel die notwenige „Flughöhe“ beim Betrachten der Anforderungen einhalten. Zu viele Details erhöhen nicht nur die Anzahl der Anforderungen und somit den Aufwand für die Verwaltung, sondern schränken auch den Lösungsraum der PLM-Systemhersteller ein. Vielleicht hat ja der ein oder andere eine viel bessere Lösung für das Erfüllen einer groben Anforderung, als das die Details dann zulassen würden?
Prioritäten setzen
Anforderungsmanagement ist selten demokratisch und das gilt noch in besonderer Weise in einer Systemauswahl. Einige Anforderungen sind eben wichtiger als andere und diese gilt es herauszufinden. Zwei Aspekte können dabei helfen:
- Wie groß ist der Einfluss dieser Anforderung auf den weiteren Prozessablauf? Was würde passieren, wenn man diese Anforderung nicht implementiert? Mit diesen Fragen können Sie die Kandidaten identifizieren, die für einen Bereich vielleicht sehr wichtig sind, aber dessen Einfluss auf den gesamten PLM-Kontext eher gering ist.
- Wie ist der Einfluss dieser Anforderung auf den PLM Business Case? Die Antwort auf diese Frage findet man bei User Stories recht schnell. Falls es schwierig ist, den Teil nach „so that …“ oder „um …“ zu formulieren, dann ist das genau eine Anforderung mit einem zweifelhaften Einfluss auf den Business Case. Und damit eher keine Anforderung für die Top-Charts. Auch wenn man nicht mit User Stories arbeitet, kann die Frage nach dem Business-Impact auch bei Use Cases oder jeder anderen Form der Anforderungsdefinition gestellt werden.
Es gibt mit Sicherheit noch weitere hilfreiche Methoden, um zu geeigneten Anforderungen für eine Systemauswahl zu kommen. Mein Artikel erhebt gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wichtig war mir aber auf die Probleme der Dominanz eines Bereiches in der Systemauswahl hinzuweisen und mit dem MVP-Ansatz eine Lösung dafür zu beschreiben.